Der 8. Oktober 2020, Berlin, Deutschland.
„Herr Schröder, dieses Paket ist für Sie angekommen“, sagte mein Sekretär.
„Danke schön, Herr Schäfer. Sie können es auf dem Tisch lassen, bitte“.
Ich wartete gerade auf kein Paket und schon gar nicht so ein sperriges. Ich hatte viel zu tun, also entschied ich, es später zu öffnen.
Nach der Mittagspause erinnerte ich mich an das Paket. Ich hatte eine halbe Stunde vor der nächsten Vorstandsbesprechung. Ich ging zurück in mein Büro, um es zu öffnen.
„Komisch, es gibt keinen Absender“, dachte ich. Was ich in dem Paket fand, hätte ich mir nie vorgestellt. Es gab eine VHS-Kassette, einen Videorekorder, ein Fernsehgerät und eine Fernbedienung. Ich hatte das gleiche Gefühl, als ich eine Woche nach dem Tod meines Vaters seinen Dachboden aufräumte. Eine ganze Reihe von Gedanken ging mir schnell durch den Kopf. Es war das Glück, so viele unvergessliche Momente mit meinen Lieben geteilt zu haben, aber gleichzeitig die Traurigkeit, sie nicht wieder erleben zu können. „Warum werde ich immer nostalgischer? “, fragte ich mich. Vielleicht wurde ich alt. Alt werden ist, wenn man ziemlich sicher mehr Zeit hinter einem als noch vor einem hat. Und in dieser Lebensphase war ich.
Ich montierte all diese alten Geräte und schaltete das Video und den Fernseher ein. Ich hoffte, dass alles funktionieren würde. Dann erschien mein Onkel Joachim auf dem Bildschirm. Er ist 1991 gestorben, aber ich vermisste ihn immer noch.
„Lieber Michael, wie geht’s? Wenn Du dieses Video ansiehst, bedeutet dies, dass es Dein 50 Geburtstag ist. Alles Gute, lieber Neffe! Ich komme aus der Vergangenheit, um in der Zukunft mit Dir zu sprechen. 31 Jahre trennen uns.
Heute, der 9. November 1989, ist ein besonderer Tag: der Tag, an dem nach über 28 Jahren ihrer Existenz die Berliner Mauer geöffnet wird. Es ist einer der glücklichsten Tage meines Lebens. Für mich ist es der Tag des Rechts, der Freiheit, der Wiedervereinigung und der Umarmungen. Heute glaube ich wieder, dass die Zukunft besser sein kann.
Ich war erst 10 Jahre alt, als die Deutsche Demokratische Republik gegründet wurde. Wir wussten nicht, ob die DDR uns Frieden und Wohlstand bringen könnte. Vorher hatten meine Familie und ich einen Weltkrieg überlebt. Wir hatten immer in Angst gelebt. Ich konnte keine glückliche Kindheit haben. Ich habe heute noch Albträume von einem dunklen Luftschutzbunker.
1961 wurde die erste Mauer aufgebaut. Meine Eltern erklärten mir, dass Mauern Menschen trennen, Brücken hingegen sie verbinden. Ich wollte deshalb Brücken bauen. Die Berliner Mauer war für mich ein Mörder der Träume. Für meinen Freund, Manfred Gertzki, war die Mauer eine tödliche Falle. Er war eines der Todesopfer an der Berliner Mauer.
Du weißt wenig über diese Geschichte, weil Du das Glück hattest, in der Schweiz aufzuwachsen. Heute möchte ich Dir dieses Ereignis erzählen, weil es ein Meilenstein der Geschichte Deutschlands ist. Jetzt bin ich auch 50 Jahre alt, aber ich bin krank. Im Jahr 2020 könnte ich an Deinem 50. Geburtstag niemals bei Dir sein. 1989 habe ich die Freiheit als Geschenk zu meinem 50. Geburtstag erhalten. 2020 wirst Du dieses Video als Geschenk bekommen.
Ich bin mir absolut sicher, dass die Zukunft immer besser wird. Ich stelle mir das Jahr 2020 wie eine Zeit vollkommener Freiheit vor. Es wird das Ende von Mauern und Grenzen sein. Sie werden überwunden, niedergerissen und verschwinden, weil Abschottung Trennung schafft und Getrenntsein nicht in unserer menschlichen Natur liegt. Es wird keine geteilten Welten geben. Es wird keine Polizeikontrollen geben, die unsere Grundfreiheiten gefährden könnten. Niemand wird Angst haben, nach draußen zu gehen. Die Umarmungen werden nicht lange auf sich warten lassen. Die Leute werden sich treffen können, wann immer sie wollen.
Der Wind der Veränderung, der heute weht, wird uns lehren, dass es immer besser ist, Windmühlen als Mauern zu bauen.
Lebewohl, lieber Michael!“
Während Wind of Change gespielt wurde, liefen verschiedene Bilder dieses historischen Tages über den Bildschirm.
Ich schaute auf meine Uhr, es war halb vier. „Verdammt! Die Vorstandsbesprechung muss bereits begonnen haben“. Ich schaltete meinen Computer ein, um dem Zoom-Meeting beizutreten. „Die Neue Normalität in der Arbeitswelt nervt total“, dachte ich. „Lieber Onkel Joachim, damals war die Zukunft besser“, würde ich ihm gerne sagen.
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